Lina Morgenstern

Nachruf auf Lina Morgenstern

Es gibt Gedanken, Einrichtungen, Anstalten, die den Ruhm ihres Begründers auf eine ganz besondere Weise überleben: durch die Schnelligkeit, mit der sie sich einbürgern. Sie werden den Menschen so rasch vertraut, so selbstverständlich und unbestreitbar, dass es einer besonderen Anstrengung bedarf, sie sich als etwas Neues, Erkämpftes, als Ergebnis eines wahrhaft schöpferischen Willens vorzustellen.

Eine solche Einrichtung ist die Volksküche seit Jahren, fast kann man sagen: seit Jahrzehnten. Ihr Dasein erscheint so unerlässlich, der ihr zugrunde liegende soziale Gedanke so einfach — jeder Arbeiter der Großstadt rechnet mit ihr, jede kommunale oder korporative Wohlfahrtspflege sieht in ihr eine notwendige Aufgabe, ein Mittel, gewissen Missständen zu steuern. So ist die Volksküche unverhältnismäßig schnell in das letzte Stadium des Weges eingetreten, den neue Gedanken zurückzulegen haben: das Stadium, in dem jeder meint, es sei nichts weiter daran, und jeder vernünftige Mensch würde das gleiche gedacht haben. Wenn dieser Siegeslauf ihres Gedankens der Begründerin der Volksküche, Lina Morgenstern, auch das seltene Glück eines unerwartet raschen Gelingens tapfer verteidigter Pläne gewährte, so hat er andererseits aber doch auch die Kraft und den Mut der Initiative, die einst zu dem Werk gehörte, etwas verdunkelt.

Am 16. November 1909 ist Lina Morgenstern in Berlin im 80. Lebensjahr gestorben. Ein Rückblick auf ihr Lebenswerk wird sie vor allem als Begründerin der Volksküche ins Licht setzen müssen

Es ist charakteristisch für die weibliche Leistung in Wohlfahrtspflege, sozialer Fürsorge und Hilfstätigkeit, dass sie meist an einen einzelnen konkreten Notstand anknüpft. Während die philanthropische Arbeit des Mannes vielfach Ausführung eines theoretischen Gedankens ist, tritt die Frau fast immer unter dem Eindruck einer akuten Not auf das Feld der sozialen Liebestätigkeit. So ist der Gedanke der Volksküche nicht etwa aus der volkswirtschaftlichen Einsicht in die wirtschaftlichen Vorteile des Großeinkaufs und der Massenherstellung entstanden, auch nicht eigentlich aus der sozialpolitischen Überlegung, dass bei der zunehmenden Erwerbstätigkeit der Frau der Familienhaushalt seine Aufgabe nicht mehr erfüllen könne. Der erste Anlass war vielmehr ein akuter Notstand: die Teuerung des Kriegsjahres 1866. Die Sorge, was bei den in die Höhe schnellenden Lebensmittelpreisen und der verminderten Arbeitsgelegenheit aus den Tausenden von Familien werden sollte, die in der Großstadt von der Hand in den Mund leben, brachte Lina Morgenstern auf den Plan der Volksspeisungen. Der Gedanke der Verbilligung durch Großeinkauf und Massenbereitstellung trat hier in den Dienst einer praktischen philanthropischen Aufgabe. Männer, die damals an der Spitze der politischen und sozialen Bewegung des Bürgertums standen, Lette, Virchow und andere, wurden für die Sache gewonnen. Ein Aufruf an &rauo;die Mitbürger Berlins« brachte in kleines Gründungskapital zusammen, und am 9. Juli 1866 wurde die erste Volksküche eröffnet. Etwas Neues in mannigfacher Hinsicht: eine Wohlfahrtseinrichtung, die doch auf der gesunden Grundlage der Selbsterhaltung ruhte, die keinen anderen Vorteil gewährte, als den Mitgenuss an den Ersparnissen des Großbetriebs. Eine Wohlfahrtseinrichtung zugleich, die den mitwirkenden Frauen eine Schule sozialer Erkenntnis brachte. Und das war vielleicht nicht minder wichtig. Die Frauen, die hier bei der Verteilung der Speisen mitwirkten, gewannen einblicke in die Laage breiter Volksschichten, wie sie ihnen die Wohltätigkeit nicht vermitteln konnte. Denn die &rauo;Armenbesuche« brachten doch immer nur mit Einzelfällen in Beziehung und in der ein richtiges Kennenlernen und Urteilen sehr erschwerenden Rolle der &rauo;Wohltäterin«. In der Volksküche weht eine ganz andere Luft. Viele Frauen Berlins verdanken der Mitarbeit bei der Speisenverteilung das Erwachen eines über das bloße Mitleid hinauswachsenden sozialen Interesses.

Die Entwicklung der Industrie, die mit jedem Jahr neue Scharen von Frauen auf den Arbeitsmarkt zog, gab der Volksküche bald auch noch eine neue Bedeutung. Sie tritt an die Stelle des Familientisches — für den Mann, für die Frau, ja schließlich für das Kind. In dieser Rolle hat sie auch ihre schärfsten theoretischen Anfechtungen erfahren. Man hat ihr vorgeworfen, dass sie an der Zersetzung der Familie arbeite, die Bequemlichkeit und hauswirtschaftliche Unkenntnis der Frauen befördere, für den Mann die Übergangsstation zum Wirtshausleben bilde. Heute wird niemand diese Einwände im Ernst erheben. Selbst wer die Volksküche als ein notwendiges Übel einschätzt, wird den Ton auf das Wort &rauo;notwendig« legen und zugeben, dass als &rauo;Übel« nicht eigentlich sie, sondern die wirtschaftlichen Zustände bezeichnet werden müssen, die sie sicher nicht befördern, sondern deren Folgen für die Volksernährung sie lindern will.

Die erste große Probe auf ihre Leistungsfähigkeit hatten die Volksküchen wieder in einem Kriegsjahr zu bestehen. Auf ihre Organisation und ihre Einrichtungen gestützt, konnte Lina Morgenstern im Jahr 1870–71 die großen Truppenspeisungen auf den Berliner Bahnhöfen leiten, die als eine der bedeutsamsten weiblichen Hilfsaktionen des Krieges noch in aller Gedächtnis sind. Monate hindurch hat diese Arbeit Frau Morgenstern und ihre Helferinnen voll in Anspruch genommen. Vielleicht war nicht das nächtliche Kampieren auf den Erbsensäcken der Vorratsräume oder in den Güterwaggons das eigentlich Bewundernswerte dieser Tätigkeit, sondern mehr noch die organisatorische Leistung, die hinter der praktischen Hilfe stand, Hier eigentlich empfing die Volksküche den Stempel einer patriotischen Tat, der ihr durch das Protektorat der Kaiserin Augusta und später der Kaiserin Auguste Viktoria bestätigt wurde.

Es ist fast selbstverständlich, das eine Frau, die in dieser Weise selbständig und zur Durchführung eigener Gedanken in das öffentliche Leben eingriff, auch der Entwicklung ihres eigenen Geschlechts nicht fernstehen konnte, ja, dass sie ihre Mitarbeit an allgemeinen Aufgaben in den Bewusstsein leistete, damit einer neuen Auffassung von der Bedeutung der Frau im Volksleben zur Geltung zu verhelfen. Die innere Zugehörigkeit zum Liberalismus und zur bürgerlichen Demokratie fügte der praktischen Tätigkeit die theoretische Grundlage hinzu; der Erkenntnis, dass die Frau im modernen sozialen Leben auch außerhäusliche, auch bürgerliche Pflichten zu erfüllen habe, gesellte sich die ethische Überzeugung, dass aufstrebenden, arbeitswilligen Kräften keine künstlichen Hemmungen entgegengestellt werden dürften, und so wurde Lina Morgenstern eine Anhängerin der Frauenbewegung, ihres vollen Programms und ihrer letzten Ziele. Auch hier wies sie ihre Veranlagung in erster Linie auf praktische Leistungen, In dem, was sie literarisch für die Frauenbewegung getan hat, kann ihre Bedeutung nicht gesucht werden, wie es überhaupt kein Abzug an ihrer Persönlichkeit ist, zuzugestehen, dass ihre schriftstellerische Arbeit nicht den eigentlichen Ausdruck ihrer Begabung darstellt. Sie lag vielmehr in der Energie, mir der sie sich den naheliegenden Aufgaben, den ersten tatsächlichen Notwendigkeiten der Bewegung zuwandte. Die Organisation der Hausfrauen, die hauswirtschaftliche Erziehung schulentlassener Mädchen die Kindergartenbewegung mit dem neuen Ǵedanken einer Durchgeistung der häuslichen Erziehung, einer Durchbildung der Frau für den Mütterberuf waren ihre Arbeitsfelder. Dabei hat sie aber stets für den ganzen großen Horizont der Frauenbewegung Blickweite gehabt und sich keiner neu auftauchenden Aufgabe entzogen.

Sie zeigte sich als regsamer Gegenwartsmensch und betätigte zugleich den humanitären Idealismus, der der Grundcharakter ihrer Lebensanschauung war, wenn sie den internationalen Beziehungen ein besonders lebhaftes Interesse entgegenbrachte. Der internationale Frauenkongress von 1896 — eine für Deutschland etwas verfrühte Unternehmung übrigens — stand unter ihrer Leitung. Lina Morgenstern ist dadurch, aber doch wohl mehr noch als Trägerin der Volksküchenbewegung, auch im Ausland populär geworden. Ihr Name gehört zu dem wenigen, was man vor der Gründung und zunehmenden Festigung des Frauenweltbundes im Ausland von der deutschen Frauenbewegung wusste. Ebenso stark aber verband sie mit dem Ausland die Teilnahme an den Bestrebungen der Friedensgesellschaft. Der Weltfriede als Ziel einer wachsenden Durchdringung aller sozialen und nationalen Verhältnisse und Beziehungen mit Humanität und Gerechtigkeit, das war dieser in der Gedankenwelt der liberalen Weltanschauung, der ethischen Kultur und eines überkonfessionellen Moralismus wurzelnden Frau ein letztes Ideal. Ist es ein utopisches — nun, so hat sie wenigstens über dem Streben danach die Augenblicksforderung nicht hintangestellt.

In dieser Verbindung praktischer Fähigkeiten, die sie neue Wege sozialen Tuns zu gehen instand setzten, mit einer konsequent demokratischen Auffassung von den Rechten und Pflichten der Frau in Staat und Gemeinde, ist Lina Morgenstern ein Typus der ersten Generation der deutschen Frauenbewegung. Wir sind stolz auf diese Generation. Ist doch das Wirken aller jener Frauen, die zu ihr gehörten, ein Wirken, bei dem das Werk hinter der Tat zurücktrat, uns heute das beste Zeugnis für den gesunden Ursprung unserer Bewegung. Diese Frauen die tapfer und tatkräftig, einfach und unbeengt durch all die schwierigen Prinzipienfragen, die uns heute in der Auffassung der Frauenfrage bedrängen, eine klar erkannte neue Mission der Frau im Gesamtleben aufnahmen, zeigen uns, dass die Frauenbewegung den gesundesten Instinkten eines Volkslebens entspringt: dem Gemeinsinn, dem Glauben an die Zukunft und dem horror vacui der Angst vor brachliegender Kraft und einem leeren Leben.