Die Aufgabe der Frauen
in der
Erziehung zur ethischen Kultur
Ein Jahrhundert ist verflossen, seit Pestalozzi, der unsterbliche Menschenerzieher aussprach: »Ich will die Bildung des Volkes in die Hand der Mutter legen«. Hiermit wie in all seinen Schriften sprach er seine Überzeugung aus, dass der Einfluss der Frauen durch die Erziehung von der größten Tragweite für die ethische Kultur eines Volkes sei.
Eine ähnliche Äußerung tat bekanntlich Napoleon I. — Im Laufe einer Unterredung mit Madame Campan bemerkte er: »Die alten Erziehungssysteme sind nichts wert, aber was fehlt ums, um den Leuten eine richtige Erziehung zu geben?« »Mütter« antwortete Frau Campan und Napoleon erwiderte: »In dem einzigen Wort liegt ein ganzes Erziehungssystem. Lassen Sie es also unsere Sorge sein, Mütter zu bilden, welche ihre Kinder zu erziehen verstehen.«
Jene Äußerung geschah in einer Zeit, wo die Gesellschaft von Ausschweifungen und Lastern durchseucht, der Charakter der Frauen Frankreichs entartet war, Die eheliche Treue bewunderte man als Seltenheit, Mutterliebe wurde verspottet, die Bande der Familie waren gelockert, die Gesellschaft in den oberen Schichten war verdorben. So war nur aus dem Schoße eines sittlichen Familienlebens die Wiedergeburt gesellschaftlicher Ordnung zu erhoffen. Ein halbes Jahrhundert später war es Friedrich Fröbel, der Schüler Pestalozzis, der sich mit seiner Mahnung »Kommt, lasst uns unsern Kindern leben« nicht nur an die Mütter wandte, sondern an das ganze weibliche Geschlecht. Sein Ziel war: Frauen und Jungfrauen zu bewussten vernünftigen Menschenpflegerinnen und Erzieherinnen zu bilden. Auch er hatte erkannt, dass die Frauen berufen seien, nicht nur den größten Einfluss auf die physische Erziehung, sondern namentlich auch auf die ethische Bildung zu übDie Aufgabe der Frauen in der Erziehung zur ethischen Kulturen. Er war der Begründer einer eyakten Wissenschaft für den erziehlichen Beruf der Frauen, eine Wissenschaft, die leider heute noch allzu wenig erkannt, unzureichend und einseitig gelehrt wird.
Der Einfluss der Frau auf Sitte und Charakterbildung zeigt sich zu allen Zeiten und bei allen Völkern. Wo das Weib sich erniedrigt und wo es geistig niedergehalten wird, da sinkt das Volk in allen Schichten: wo es nach Idealen ringt, eine würdige Ehegemeinschaft führt und durch Beispiel und Erziehung sittliche Reinheit erstrebt, da hebt sich auch die allgemeine Sittlichkeit. — Die menschliche Gesellschaft befindet sich gegenwärtig in einem Zustande der immer mehr um sich greifenden Verrohung, der Unzufriedenheit und des Unbehagens, der um so schmerzlicher empfunden wird, als sie im technischen Wissen und Können auf einer bisher noch unerreichten Höhe steht. Um sie aus dem Banne jenes Zustandes zu erlösen, ist eine sittliche Ordnung herbeizuführen, deren Fundament: Wahrheit, Gerechtigkeit und Liebe ist. Diese sittliche Ordnung kann nur hergestellt werden, wenn der Einzelne von frühester Kindheit an dazu erzogen wird, und diese Erziehung zur ethischen Kultur ist die Aufgabe der Frauen. Dr. Wiese behauptet mit Recht: »Was das kommende Geschlecht wird, das hängt viel mehr, als etwa von Schulen, davon ab, wie die Frauen als Mütter und Erzieherinnen sind!«
In der Kinderstube wird die Saat ausgestreut, hier beginnt der Einfluss der Frau, der sich nicht allein mit dem Wachstum der Kinder erweitert, sondern der sich auf ihre ganze Umgebung erstreckt. Die sittliche Reinheit, die geistige Bildung, der edle Charakter und das liebevolle Gemüt einer Frau strahlen wie die Sonne Licht und befruchtende Wärme aus, unter deren Einwirkung alle Tugenden, das Wohlbehagen und der Frieden gedeihen. — Umgekehrt, wo eine schlechte charakterlose Frau herrscht, wird alles in ihrer Umgebung von Unkraut überwuchert, Generationen werden durch ihr Beispiel vergiftet.
Die Aufgabe der Frauen in der Erziehung zur ethischen KulturDie Erfahrung lehrt, dass der Mutter Beispiel von größerer Tragweite sei, als das des Vaters, Ist z.B. der Vater ein Trunkenbold, die Mutter jedoch mäßig und arbeitsam, so wirkt das Beispiel des Vaters abschreckend, und die Kinder schmiegen sich eng an die Mutter, Ist jedoch die Mutter schlecht, so verlieren sie jeden Halt und arbeiten sich schwer aus dem Sumpf heraus.
Zwar ist es noch keiner Mutter gelungen, durch Erziehung allein das Problem zu lösen, einen vollendeten Menschen heranzubilden, nicht einmal vereint mit der Schule und dem Leben: wohl aber muss es ihre Aufgabe sein, in dem Kind alle Fähigkeiten des Gemütes und des Geistes so zu entwickeln, dass es die Empfänglichkeit für das Gute, Schöne und Erhabene in sich trage, dass die Keime zur Ethik in ihm gepflegt werden, bis sie kräftig genug sich entwickelt haben, um nicht mehr verdorren zu können.
Wenn wir von einer Aufgabe der Frauen in der Erziehung sprechen, so begrenzen wir selbstverständlich das große Erziehungswerk nicht allein auf die Mütter, sondern auf das ganze weibliche Geschlecht, dessen würdigste Aufgabe die erziehliche ist, wie es Schiller ausspricht:
Aber mit sanft überredender Bitte
Führen die Frauen das Zepter der Sitte,
Löschen die Zwietracht, die tobend erglüht,
Lehren die Kräfte, die feindlich sich hassen,
Sich in der lieblichen Form zu umfassen,
Und vereinen, was ewig sich flieht.
Vierundzwanzig Jahre sind verflossen, seit ich in meinem Werk: »das Paradies der Kindheit« aussprach: »Eine wahre Mutter soll des Kindes Sonne sein, die es durchwärmt und seine Geisteskeime ans Licht zieht, der Tau, der es tränkt, der seinen zarten Körper von verletzendem und befleckendem Staub befreit, die Kraft, die es hält, es stützt, es ernährt,bis es aus eigener Kraft fest stehen, gehen und tätig sein kann. Sie soll ihm sein das seelenvolle Auge, durch das es die Welt erschaut, das Gemüt, welches seine Begeisterung für das Gute weckt, der Geist, der es zum bewussten Wesen erzieht.«
Die Mutter soll den Kindern die Richtung geben, sie das Rechte lehren, sie zur Gerechtigkeit führen. Von ihr hängt Wohl und Wehe, Glück und Unheil, Sittlichkeit und Tüchtigkeit kommender Geschlechter ab.
Kann aber jede Mutter diesen Beruf erfüllen?
Leider müssen wir darauf mit einem entschiedenen »Nein« antworten.
Die Frau, welche von der Not des Lebens gedrängt, auch in der Ehe den Kampf um‘s Dasein auf sich nehmen und das Brot durch schwere Arbeit außerhalb des Hauses verdienen muss, verkauft Zeit und Kraft, um die Kinder am Leben zu erhalten, sie vor Hunger zu schützen und ihre notwendigsten Bedürfnisse zu befriedigen. Sie kann sich also der Erziehung nicht widmen, nicht auf Geist und Gemüt wirken. Wer wollte die ehrliche und fleißige Arbeiterin deshalb tadeln? Diese Fälle aber stehen nicht vereinzelt da. 1e bilden die große Masse, die Masse des Proletariats. «Etwas besser schon hat es jene unendlich große Zahl Frauen, die in ihrem Hause’ eine Erwerbsarbeit ausüben, die aber dabei ohne jeden Beistand die Wirtschaft und mehrere kleine Kinder zu versorgen haben.
Diese sind ihnen bei der Überhäufung mit Arbeit oft im Wege, Ihre Wünsche und Fragen finden keine Beachtung: die Mütter werden oft ungeduldig, mürrisch und dadurch ungerecht. — Selbst da, wo die Frau nicht unbedingt notwendig hat mit zuerwerben, aber doch alle Arbeit in der Wirtschaft und für die Kinder allein besorgt, fehlt ihr oft der heitere Sinn und die Zeit, mit ihren Kindern herzlich zu verkehren, ihnen freundlich Bescheid zu geben, wenn der Kleinen Wissbegierde, der Wissensdurst der Seele erwacht, die sich. wie an ein Orakel, an die Mutter wendet.
Erziehung verlangt Zeit und eine innige freudige Teilnahme an der Entwicklung des Kindes, ein Ein- gehen auf seine Natur, auf seine Besonderheit. — Die sorgenvoll überlastete Arbeiterin glaubt ihre Pflicht getan zu haben, wenn sie mit Anstrengung all ihrer Kräfte Haus und Kinder in Ordnung hält, ihnen und dem Manne gute Nahrung bereitet, das Daheim behaglich macht.
Der große Missstand, dass unzählige Kinder der Erziehung und namentlich der Erziehung zur ethischen Kultur entbehren, kann nur beseitigt werden, wenn die freiwillige Hilfe der wohlhabenden, glücklich gestellten Frauen eintritt, wie es Ja schon vielseitig geschieht durch Krippen, Bewahranstalten, Volkskindergärten, Mädchen- und Knabenhorte. Es gilt nicht allein den notleidenden Müttern die Sorge um die Kinder für den Tag abzunehmen, sondern die Kinder zu schützen, sie auf den rechten Weg zu leiten, der zu den idealen Gütern des Lebens führt und zugleich ihre Kräfte für das praktische Leben übt und stärkt. Es gilt aber auch für die Gesundheit und körperliche Ernährung der armen Kinder zu sorgen, wie es bereits in vielen Großstädten durch Ferienkolonien und Kinderspeisungen geschieht, Wie unzähligen Jungfrauen und kinderlosen Frauen erwächst hier eine segensvolle Arbeit in der Gemeinsamkeit.
Während bei der großen Masse die Not es ist, welche verhindert, dass der Einfluss des Daheims, besonders der Einfluss der Mutter auf die Kinder ethisch wirke, wodurch die Verrohung der Massen erklärlich wird, — so sehen wir bei den mittleren und reichen Ständen das Ideal der Erziehung zur ethischen Kultur eben so wenig erreicht, weil einerseits die Mütter selbst nicht ethisch erzogen sind, andererseits das Kind zum großen Teil angestellten Personen anvertraut ist, welche sich ihrer Aufgabe nicht bewusst sind, Wie oft werden Kinder ungebildeten Dienstboten überlassen, die nebenbei allerlei häusliche Arbeiten zu verrichten haben und sich wenig um die geistige Entwicklung ihrer Pflegebefohlenen kümmern, ja dazu gar nicht fähig sind, Auf die Fragen der Kinder erhalten diese keine genügende Antwort, werden oft ausgelacht oder barsch abgewiesen, Begeht das Kind eine Verkehrtheit oder Unart, so wird es nicht belehrt, sondern gescholten und geschlagen. — Eine tiefe Wahrheit aber ist es, dass Ungerechtigkeit ein Kind eben so schlecht als unglücklich macht. Sind die Personen, deren Obhut man das Kind anvertraut, für diesen Beruf vorgebildet, z.B. als Kindergärtnerin oder Erzieherin, und dürfen sie sich ausschließlich mit dem Zögling beschäftigen, so können sich allerdings gut, oft besser auf das Kind einwirken als die Mütter. Doch alle Mütter, welche bezahlte Kräfte halten, sollten einsehen, dass sie jedes andere Geschäft von Fremden besorgen lassen könnten, nur nicht die Kindererziehung! Das soll aber keineswegs heißen, dass bei derselben, wer die Mittel dazu besitzt, sich nicht die rechte Hilfe dazu verschaffen sollte; nur gebe man der Helfenden alsdann auch eine würdige Stellung und genügenden Lohn! Man lasse auch der Erziehern Zeit zur Fortbildung und Erholung, damit sie nicht mit müdem Geist, traurigem Gemüt und abgearbeitetem Körper an ihr Werk gehe, Weis doch jede gewissenhafte Mutter, wie anstrengend und aufreibend der unausgesetzte Umgang mit Kindern ist. Auch die Mutter, deren liebstes Arbeitsfeld die Kinderstube bleibt, darf sich bei dieser Aufgabe nicht bis zur Erschöpfung aufopfern. Wie will ihr Geist ethisch wirken, wenn er keine neue Nahrung erhält? Durch Lesen guter Schriften, durch edle Geselligkeit, durch Teilnahme an den Weltereignissen und vor allem durch geistige Gemeinschaft mit ihrem Mann soll sich die Frau fähig erhalten, die Oberaufsicht über ihre Häuslichkeit zu haben, erziehlich auf Kinder, auf Dienstboten zu wirken, dem Mann eine ebenbürtige Gefährtin zu sein, ihm sein Haus zu einer Friedensstätte zu bereiten und ihn, der zumeist von materiellen Sorgen bedrückt, gleichgültiger für die Ethik des Lebens wird, zu derselben zu erheben.
Könnte man seine Kinder nur mit guten Beispielen umgeben, so wäre die rechte Erziehung zur ethischen Kultur gefunden, das Abgewöhnen, Strafen, Bessern fiele fort, den Neigungen würde die rechte Richtung gegeben, man hätte nur Leidenschaften zu mäßigen, Gutes anzuregen und das Wesen des heranwachsenden Menschen in Übereinstimmung mit seiner Umgebung zu bringen.
Was das Kind von Erwachsenen sieht, wie sie sich betragen, wie sie urteilen und handeln, das nimmt es unwillkürlich an: daher kommt es, dass durch ganze Familien derselbe Zug geht, ja, dass kleine Städte und Ortschaften, wo die Leute unter einander heiraten, dasselbe Gepräge haben. Das Beispiel macht die Sitten!
Die Mutter, welche das Kind in den ersten ‚Jahren Fast ausschließlich umgibt, muss diesen Nachahmungstrieb besonders beachten. Das Kind, welches gewöhnt wird, Rechtschaffenheit, Treue, helfende Liebe zu sehen, wird zwar erst aus Gewöhnung, später aus freiem Willen diese Tugenden üben. Eine verkehrte Erziehung ist es, das Kind in eine Zwangsjacke zu stecken, in der es nicht anders handeln kann, als diese es erlaubt. Soll es vernunftgemäß und menschenwürdig sich entwickeln, so lasse man ihm so viel Freiheit, als sich mit dem Wohlbefinden seiner Umgebhung verträgt. Es soll aus eigenem Antrieb sprechen und handeln: nur so wird die Erziehende es besser kennen lernen, um abzuhelfen, zurückzuhalten oder anzutreiben.
Unrecht ist für den Menschen nur das, was er für Unrecht hält; Recht, was er nach seiner Überzeugung für Recht ansieht. Tugendhaft ist nur der, welcher seinem natürlichen Triebe gegenüber, das allein tut, was er für recht hält. Dem Kind fehlt noch der scharfe Blick für das Recht und Unrecht, Handelt der Knabe oder das Mädchen unüberlegt oder ans Unkenntnis, und wird das daraus entstehende Versehen als böse und schlecht ausgelegt, so macht man das Kind erst schuldvoll. Die Erziehung setzt oft Gesinnungen und Handlungen voraus, die dem Zögling fremd sind. Viele Fehler, die bestraft werden, sind eigentlich die Fehler der Eltern und umgebenden Erwachsenen. Am schwierigsten in der mütterlichen Erziehung ist die Einwirkung auf den religiösen Sinn. In jedem Kind lebt eine Sehnsucht zu dem in der Natur Verborgenen, zur Erforschung des Grundes aller Dinge, des Ursprungs des eigenen Daseins. Leider, wird von den erziehenden Müttern diese Sehnsucht durch Märchen zu befriedigen gesucht. Ich erinnere nur an das Storchmärchen, das man selbst dem heranwachsenden Knaben und Mädchen auf die Frage nach seiner Herkunft erzählt, statt in ihm das innige Gefühl der Zusammengehörigkeit mit seiner Mutter und dadurch Dankbarkeit zu erwecken. Was man aber damit bezwecken will, führt oft gerade zum Gegenteil, wenn Unberufene die Neugierde des Kindes befriedigen. — Ich erinnere an den herrschenden Gebrauch, in der Kinderstube Gebete zu lehren, die hin geplappert werden, ohne das geringste Verständnis; von Gott zu sprechen, wie ihn Menschenklugheit schuf, nicht als den seine ganze Schöpfung durchdringenden Geist, dessen Offenbarung in der Endlichkeit der Mensch ist.
Die Erziehung soll es sich zur Aufgabe stellen, dem Kind seine göttliDie Aufgabe der Frauen in der Erziehung zur ethischen Kulturche Abstammung zum Bewusstsein zu bringen, damit es seine Denkart und seine Handlungen im Einklang mit dieser bringe und alles Gemeine fern von sich halte.
Wo aber kann der Mensch zu diesem Bewusstsein besser gelangen als auf dem Boden eines reinen Familienlebens, in dem ihm das entgegengesetzte Gleiche als ein gegliedertes Ganze entgegentritt, wo jedes Glied seine volle Entwicklung und seine volle Berechtigung findet, Nur allmählich wird der heranwachsende Knabe, das heranwachsende Mädchen es fassen lernen, dass die Familie ein Glied des Staates, dieser ein Glied des gemeinsamen Vaterlandes, das Vaterland das Daheim eines Volkes, einer Nation ist, und diese wiederum ein Glied der großen Menschenfamilie, der Menschheit, die ihren Urquell in der Kraft Gottes hat. Je mehr in der Familie das Gemeingefühl geweckt, das Wohlwollen, die Nächstenliebe gepflegt werden wird, desto mehr brüderlich duldenden Sinn, desto mehr Schonung und Achtung gegen die Menschen, welcher Gesellschaftsklasse sie auch angehören mögen, wird unter den Wohlerzogenen herrschen, In der Pflege des Gottesfunkens im Kind entzündet die Mutter das heilige Feuer der Menschenliebe.
Der Säugling empfängt von der Mutter die Gewöhnung; die Erziehung beginnt also schon von der Geburt an, ja vor der Geburt durch die Selbsterziehung der Mutter. Später muss sie ihm zur Hilfe kommen, die mannigfachen äußeren Eindrücke innerlich zu verarbeiten, damit seine Vorstellungen und Begriffe sich klären, Diese ersten Eindrücke und ihre Auffassung sind die bleibendsten.
An der Mutter Hand erklimmt das Kind die ersten Stufen auf des Lebens Leiter; wie sie es führt, wird es empor steigen lernen; so wie es durch sie sieht, wird es die Dinge anschauen, wie sie empfindet und ihre Empfindungen äußert, wird sein Gefühl zum Ausdruck kommen, — Das ist es, was die mütterliche Erziehung in den ersten Jahren so wichtig macht. Das scheinbar Geringe berührt nicht nur die Gegenwart, sondern wirkt auf die ganze Zukunft. Das kleinste steht im Zusammenhang mit der ganzen Entwicklung, aus der unbedeutendsten Versäumnis körperlicher Pflege in der Kindheit erwachsen oft Schäden für die ganze Lebenszeit, um wie viel mehr geistige Schäden durch Vernachlässigung. Immer mehr zum Bewusstsein des Ich gelangend, äußert sich in der Kindesnatur die Lebensfülle durch die mannigfachsten Gegensätze und Auswüchse, es sind die sogenannten Unarten. Die Aufgabe der mütterlichen, Erziehung ist es, diese Gegensätze zu vermitteln, die Auswüchse zu beschneiden, seine Regungen zum Guten zu lenken, zum Rechten zu weisen, seinen Tätigkeitstrieb allseitig zu entfalten. Der Eigensinn ist z.B. eine kindliche Eigenschaft, die nur bekämpft werden kann, wenn man nicht jedem unvernünftigen Verlangen nachgibt, welches oft zur Begierde, Habsucht, Missgunst oder Trägheit wird; man begrenze die Erfüllung kindlicher Wünsche in die Schranken seiner Tätigkeit, man lasse seine Kräfte arbeiten, dass es selbst zu erreichen suche, was es besitzen möchte, Man raubt dem Kind den Genuss, selbst zu finden und zu schaffen, wenn man ihm z.B. jedes Spielzeug fertig gibt und ihm Alles zurecht legt, so dass seiner Tätigkeit kein Raum bleibt.
Beispielsweise verdirbt man des Kindes Charakter, macht es flatterhaft, begehrlich und unbescheiden, wenn man ihm zu zu viel Spielsachen zuführt, Näschereien spendet und Alles gibt, was das Kind verlangt, Die Belebung eines kräftigen, ausdauernden Willens zur Ausübung des als gut Erkannten erstrebe die Erziehende gerade in dem eigensinnigen Kind, sie erhebe den Eigensinn zur Willensfestigkeit. — Eine Hauptaufgabe der mütterlichen Erziehung ist es, das Kind in Allem, was es umgibt und in Allem was es treibt, einen inneren Zusammenhang sehen zu lassen, Es soll zeitig von der sinnlichen Wahrnehmung zur sittlichen Empfindung geführt werden und sich als ein Glied der Familie, der Menschheit und der Natur fühlen lernen, Und ebenso wie die Mutter sich ihrer erziehlichen Aufgaben bewusst, selbstlos ihre Kinder für die Schule und das Leben vorzubereiten hat, so muss dies bei der Berufs-Erzieherin der Fall sein, ob sie sich Kinderpflegerin, Kindergärtnerin, Gouvernante oder Lehrerin nennt, sie Alle müssen bedenken dass sie die eine Menschenknospe, die ihrer pflegenden Hand anvertraut ist, als Trägerin künftiger Generationen erziehen. Die echte Erzieherin muss geistige Mutterschaft üben, sie soll aus dem Kind den Gottmenschen bilden, der das Tiermenschliche zu überwinden die Kraft hat.
Das Gerechtigkeitsgefühl, das Wohlwollen, die Verträglichkeit und die Duldsamkeit sind Tugenden, welche von den Frauen in der Kinderstube, im Kinderspiel gepflegt und gewahrt sein wollen, um tief im Gemüte Wurzeln zu schlagen und die Moral des ganzen Lebens zu durchdringen, Wo diese Tugenden angepflanzt sind, da gibt es später keinen Klassen- und Rassenhass, keine Unterdrückung und Überhebung, welche Jetzt den Zeitgeist, wie vulkanische Stoffe erfüllen und uns einer gewaltigen Umwälzung entgegentreiben, in der ein wüster, unmoralischer Kampf die ethische Kultur zu vernichten droht, Wer kann es ermessen, welch einen Anteil die Indolenz der Frauen an diesen kulturfeindlichen Zuständen hat?
Unter den vielen Fehlern, welche der ethischen Kultur hemmend im Wege stehen, ist die Lügenhaftigkeit die am schwersten zu bekämpfende, Gesellschaftliche Verhältnisse erzeugen die konventionelle Lüge, nichts jedoch verdirbt die Gesinnung so sehr, als der Mangel an Wahrhaftigkeit. Wie will eine Mutter auf das Gewissen ihrer Kinder wirken, die sich nicht scheut, bei alltäglichen kleinen Veranlassungen vor ihnen Unwahrheiten zusagen, oder gar ihre Kinder oder Dienstboten sagen zu lassen, wie z.B. Verleugnen ihrer Anwesenheit bei unwillkommenen Besuchen u.a.m. Die Wahrhaftigkeit Ist eine Tugend, die von frühester Kindheit an geübt sein will, Der Einfluss der Mutter vermag hier unendlich viel, — Fast alle kleinen Kinder sprechen die Unwahrheit, weil ihre Fantasie größer ist, als ihr Begriffsvermögen., Ihre Darstellungsweise entspricht dann nicht der Wirklichkeit. Solchen Kindern muss eine besondere Aufmerksamkeit gewidmet werden. Die Erzieherin muss sie zur Erkenntnis der Wahrheit durch Fragen führen; sie zeige kein Misstrauen, aber auch nicht unbedingten Glauben; sie suche seine Begriffe zu klären, indem sie auf das Tatsächliche hinweist, damit sein Verstand die Fantasie beherrschen lerne. Größere Kinder, wie auch Erwachsene lügen oft aus Feigheit, aus Furcht vor Strafe oder Unannehmlichkeit, Ein falsches System wäre es, den Kindern Straflosigkeit zuzusichern, wenn sie die Wahrheit sagen, denn dadurch würden die begangenen Fehler an Wichtigkeit für sie verlieren, würde die Feigheit gestärkt werden. Das Kind soll fühlen, dass es der Mutter vor allen Dingen auf die Wahrhaftigkeit ankommt. Die Erziehende muss dem Kind zum Bewusstsein bringen, dass sich nur derjenige glücklich fühlen könne, der bei der Wahrheit bleibt und auf sein Gewissen hört, zum Bewusstsein bringen, dass die Lüge eben verächtlich macht und dauernden Verdacht erweckt, von dem man sich schwer befreien kann. Unbedingte Aufrichtigkeit erleichtert das Erziehungswerk.
Ein Haushalt, in dem die Lüge herrscht, muss sich in Anarchie auflösen, denn wo das Vertrauen und der Glaube aufhören, sind alle Lebensbeziehungen unter- miniert. Die Eheleute, welche sich gegenseitig belügen, können weder Achtung vor- noch Liebe zueinander haben, noch ihre Kinder zu sittlichen Menschen erziehen. Wer selbst des inneren Haltes entbehrt, kann Niemanden stützen und leiten, Was aber in der Familie ausgesät wird, das wuchert dann in der Gesellschaft fort! — Die Lüge nimmt allerlei Formen an: Ausflucht, Verschweigen, Ausweichen, Abstreiten der Wahrheit, Verbergen seiner Meinung hinter zweideutigen Redensarten usw. Wie aber auch die Form verhüllten Lügens sei, sie richtet noch mehr Schaden an, als die offenbare Lüge und entwürdigt den Charakter, dem der Mangel an Wahrhaftigkeit zur zweiten Natur wird. Die Aufgabe der Frauen in der Erziehung zur ethischen KulturDaraus entsteht: das Verkleinern und Herabsetzen, das Übertreiben und Prahlen, das Zurückhalten der Wahrheit, wo es Pflicht sein würde zu reden, und die Unehrlichkeit der Gesinnung, die sich nicht scheut, das Gegenteil von dem zu äußern, von dem man selbst überzeugt ist, Sie gipfelt in der Verleumdung.
Beherrscht eine solche Lügenhaftigkeit nicht mehr Einzelne, sondern die Gesellschaft, durchdringt sie das Parteiwesen, die Parteipresse, die Behörden und die Beamten, so müssen wir befürchten, dass ebenso wie ein Haushalt an der herrschenden Unwahrheit zu Grunde geht, auch ein Staat in allen seinen Fugen durch sie erschüttert wird. Wo keine Wahrheit ist, kann keine Sittlichkeit sich entfalten. Diese aber ist es, welche, allgemein zur Ausübung gebracht, allein die höchstmögliche Glückseligkeit gewährleistet.
Eine Hauptbedingung der ethischen Kultur ist die Ehrlichkeit, die natürliche Folge der Wahrhaftigkeit. Wird dem heranwachsenden Menschen als Fundament seines Charakters diese Tugend gelehrt, so wird er die Lüge mit all ihren Hilfsmitteln verabscheuen, er wird nichts so sehr von sich fern halten, als Schmeichelei und Heuchelei, Arglist und Falschheit, Betrug und Intrige. —
Die Aufgabe der Frauen in der Erziehung zur ethischen Kultur besteht, wie aus allem Gesagten hervorgeht, in der Einwirkung auf Charakterbildung und ideale Geistesrichtung, welche die Grundsätze einer für alle Menschen ohne Unterschied des Bekenntnisses gültigen Moral zu verwirklichen trachtet, die die Menschen besser und darum glücklicher machen soll.
Zur Fähigkeit, diese Aufgabe zu erfüllen, muss das ganze weibliche Geschlecht erzogen werden, denn es gehört dazu nicht bloß der Wille, die Begeisterung und das Pflichtgefühl, sondern die Einsicht des Besseren, die Wertschätzung und Erkenntnis der Ideen.
Je mehr Einsicht die Frau in die Verhältnisse des Lebens erhalten wird, desto aufgeklärter und weit sehender wird sie werden; je gerechter ihre Stellung in der menschlichen Gesellschaft, desto einflussreicher wird sie werden.
»Von der Geisteskultur der Frauen hängt die Weisheit der Männer ab«, sagt Sheridan. Lasst die deutsche Frau nicht zurückstehen an Bildung und Wissen, erkennt an, dass Größe und Tugend gleichberechtigt sind bei Mann und Frau, und es wird sich das Wort Weinholds erfüllen: »Deutsche Frauen werden die Männer bessern und ihre Geschichte retten müssen, nicht durch Amazonenzüge, sondern durch die Macht des Beispiels, durch ihre gewaltige Weiblichkeit.«
Blicken wir nun am Ende des 19. Jahrhunderts um uns, so müssen wir mit Schmerz erkennen, wie weit entfernt wir von den Siegen ethischer Kultur sind, d.h. von dem Sieg der sittlichen Ordnung, der Wahrheit, Gerechtigkeit und Liebe. Dies veranlasste ja eben Männer von hervorragender Bildung und ernstem Willen, die Gesellschaft für ethische Kultur zu begründen, und dass auch Frauen von Anfang an sich ihnen zahlreich anschlossen, in ihr willkommen geheißen wurden, in ihr arbeitend sich betätigen, das gibt die Hoffnung, dass eine kräftige Gegenströmung die Lüge, den Hass, die Ungerechtigkeit und Unduldsamkeit hinfort spülen werden, um der Moral und den Idealen der Brüderlichkeit, dem Frieden, der Sittlichkeit und Freiheit zum Siege zu verhelfen.
Dazu beizutragen sei die Aufgabe jeder Frau, der unverheirateten, wie der verheirateten, So schön der Satz auch klingt, die Frau gehört ins Haus, in die Familie, so schwer, ja unmöglich lässt er sich in Wirklichkeit erfüllen: aber auch die alleinstehende, auf sich selbst angewiesene Frau wirke durch ihr Beispiel der Energie und Sittenreinheit ethisch auf ihre Umgebung.
Das ist des Weibes göttlicher Beruf,
Den jungen Keim zu pflegen und zu warten,
Den Gott in seinem Ebenbild schuf,
Ihn einzuführen in den Lebensgarten,
Der Pflegesinn, den Gott in der Natur
Als Lebenstrieb und Lebenskraft verbreitet,
Der sich uns offenbart im Blümlein auf der Flur,
In jeder Knospe, die der Baum bereitet,
Der Pflegesinn tue sich im Weibe kund,
Die Menschheitsblüte herrlich zu entfalten:
Die Liebe ist des Daseins Ziel und Grund,
Nur ihr entkeimen sittliche Gewalten.