Glaube, Andacht und Pflicht
Am zweiten Morgen
»Ich glaube an Gott, den einzigen, einigen, den Urquell alles Seins, den Mittelpunkt alles Lebens, der da war, ist und wird sein!«
Das Gottesbewusstsein ist dem Menschen inne geboren, und wie verschieden es sich auch je nach Erziehung und eig'ner Anschauung äußere, es lebt in uns, wie es zu allen Zeiten und bei den verschiedensten Völkern gelebt hat! Je nach der Befangenheit ihrer Sinne und ihrer Vernunft suchten die Menschen Gottes Spur und beteten seine Werke an, weil es ihnen an Erkenntnis seines Wesens fehlte.
»Der Mensch schaut mich nicht während er lebt!« sagte der weise Gesetzgeber Moses. Wie könnte auch der Mensch die alles umfassende Gottheit erkennen, da er nicht einmal den geringsten Teil seiner Werke zu überdenken vermag? Wir irren, wenn wir unsere Erde als den Mittelpunkt der Welt betrachten und uns als das letzte und höchste Ziel des Lebens. Unsre Erde ist einem Punkte in dem Weltenall vergleichbar und unser Leben und Wirken dem kurzen Leben und Wirken des Wassertropfens im Meere. Wie der Tropfen nicht das Meer zu übersehen vermag, so können auch wir nur mit dem Auge umfassen, so weit unsre geistige Sehkraft reicht. Wie aber das Bild der Sonne sich in jedem Tropfen abspiegelt und ihre Strahlen auch die verborgensten Flecken der Erde durchdringen, so spiegelt sich in unsrer Brust und rings um uns her der Widerschein Gottes!
Wir fühlen die Kraft und das Leben, das uns von ihm ausströmt, wir empfinden die Wärme seiner Liebe, ohne die unser Dasein ein kaltes Spiel des Zufalls wäre, wir erkennen den Zusammenhang unseres Lebens mit Gott und finden in ihm die Lebenseinigung, den Frieden, der uns sonst oft bei ungelösten Widersprüchen verloren ginge. Die Geseke und die Weisheit des Allerschaffenden werden der forschenden Seele am Bau des geringsten Pflänzchens kund.
Ringen wir auch vergebens danach den Schleier der Wahrheit zu lüften, der uns das Allerhöchste verhüllt, so ist uns das Gottgefühl in uns Bürge von unsrer Zusammengehörigkeit mit dem Geist des Weltenalls, ja selbst im Zweifler spricht es sich aus, auch er forscht nach der ewigen Wahrheit, auch er empfindet die Sehnsucht den Urgrund aller Dinge zu ergründen.
Der Glaube an Gott ist gleich dem Glauben an das Gute, an das Gesetzmäßige. Der Glaube leitet unser Gemüt, wie die Vernunft unserem Verstand zur Nichtschnur dient. Der Glaube an Gott gibt uns zunächst die Pflicht ihn zu suchen! Wo aber wird uns der unerschöpfliche Quell seines Daseins zunächst erschlossen?
In der Schöpfung; den Werken seiner Allmacht, Allweisheit und Allliebe.
Je mehr sich der Mensch zum Beherrscher der Naturkräfte erhebt, desto inniger verwandt fühlt er sich der Urkraft Gottes und die kurze Zeit, die ihm zugemessen ist, dehnt sich weit hinaus über das Leben von Jahrtausenden! Je tiefer er sich in die Geseke und wohlgeordneten Schätze des Erdreichs versenkt, desto demutsvoller erkennt er seine Beschränktheit gegenüber der unergründlichen Gotteskraft! Auf jedem Schritte, den der sinnige Naturfreund vorwärts tut wird es ihm offenbar, dass nicht blinder Zufall, sondern Geseke der Liebe und Versöhnung, der Weisheit und Ordnung die Welt erschufen und ewig erhalten! Dem Menschen ward vor allen Geschöpfen das Verständnis für die Schönheiten und die Wunder der Schöpfung gegeben, ihm allein eine Sprache, in der er Gott preisen und danken und das Leben verherrlichen kann! Jeder Aufblick zu Gott aber in Freud und Leid, in Ehrfurcht und Demut, in Vertrauen und Dankbarkeit ist Gebet! Gebet ist nicht Pflicht, es ist eine Wohltat für uns selbst! Nur ein reines, kindliches Gemüt vermag wahrhaft zu beten.
In der betäubenden und geräuschvollen Art unserer alltäglichen Beschäftigungen leben wir oft nur selbstsüchtigen Zwecken und verlieren das hohe Ideal der göttlichen Vervollkommnung in uns ganz außer Augen. Daher wird es notwendig zwischen Arbeit und Ruhe zu unterscheiden und Zeiten zu halten, in denen wir uns innerer Sammlung hingeben und über die Bedeutung unsres Lebens nachdenken. Daher ist das Feiern der Festtage eine schöne Sitte, die wir zur Pflicht erheben, weil sie das gemeinsame Band befestigen, das uns an alle diejenigen fesselt, welche gleich uns sich zu bestimmten Zeiten einer religiösen Erhebung hingeben. Die Feiertage sind zumeist an geschichtliche Begebenheiten geknüpft, welche uns auf den Zusammenhang der Vergangenheit mit der Gegenwart aufmerksam machen und uns als Glieder der Menschheit an unsre Bestimmung ihr gegenüber mahnen.
Aber vor Allem ist es unser Beruf das zu pflegen, was uns zum Ebenbild Gottes, zum strebenden, sinnigen, schaffenden Menschen macht, die Seele. Sie zu veredeln ist unsre Pflicht.
An Erkenntnis zuzunehmen, um die uns verliehenen Fähigkeiten zu nützen, sei unser Streben, emsig zu forschen nach Wahrheit und Recht, nach Lehre und Gesetz sei unsre Aufgabe, die sittliche Freiheit über niedere Leidenschaften zu gewinnen sei die Frucht unsres freien Willens!
Weisheit und Tugend sind die Begründer der Glückseligkeit. Die Weisheit erkennt das Nichtige, die Tugend übt das als gut Erkannte. Die Weisheit schöpfen wir aus der Wissenschaft. Es wird daher Pflicht jedes Gottesgläubigen alle Kenntnisse zu erstreben, die uns den Schatz der Weisheit zuführen, vor Allem die Kenntnis der Natur, die des Menschen und seiner Geschichte. Die Tugend wurzelt in der Selbstkenntnis, Selbstbeherrschung, Selbstachtung und Selbstverleugnung.
»Dir geben einen Halt im Leben, einen Stab Der Worte vier: halt ein! halt an! halt aus! halt ab!«
Der Mensch ist seiner Geburt und seiner ganzen Wesenheit nach mit unauflöslichen Banden an Die Menschheit geknüpft. Hilfebedürftig erwacht der Säugling in den Armen der Mutter und Hilfebedürftig bleiben wir unser Leben lang. Die Arbeit, die Wahrheit und die Liebe ketten uns an die Menschheit.
Der Israelit, der durchdrungen von der Überzeugung ausruft, dass Gott, der einige, einzige ist, der Urgrund alles Gewesenen, der Mittelpunkt alles Seins, die schöpferische Kraft, die Alles erhält und die Schöpfung täglich erneuert, er bekennt zugleich, dass alle Menschen ohne Unterschied Gottes Geschöpfe und unter einander gleichberechtigt sind. Daher erwächst ihm zugleich aus seinem Glauben die Gerechtigkeit gegen seine Mitmenschen.
Fern sei von ihm Religionshass und Verfolgungssucht; denn wie verschieden auch die Überzeugungen der Menschen sind, sie haben alle eine Quelle und ein Ziel menschliches Fehlen und göttliches Erstreben! Mehr noch als die Gerechtigkeit verknüpfe uns die Liebe den Menschen. Die Liebe, die uns geboren und auferzogen hat und die uns zunächst Pflichten der Dankbarkeit gegen die Eltern und die Wohltäter unsrer Jugend erweckt! Die Liebe und Gerechtigkeit seien zugleich die Prüfsteine all unsrer sittlichen Handlungen gegen die Familie, den Staat und die Menschheit!
Aus der Liebe ersteht die Begeisterung für das Edle und Wahre, ohne Liebe und Gerechtigkeit sinkt das Gebäude unsrer Hoffnung auf Menschenverbrüderung in den Staub.
Sei ein treues Glied deiner Familie, ein treuer Anhänger und Kämpfer deiner Gesinnungsgenossen, aber sei vor Allem ein würdiges Glied der Menschheit denn jeder Einzelne ist berufen zum Glück, zur Vervollkommnung, zur Freiheit der Gesamtheit beizutragen!
Ehrfurcht vor Gott, Vervollkommnung unsrer unsterblichen Seele und das Streben Liebe und Gerechtigkeit unter den Menschen zu verbreiten sind die Pflichten derer, die sich zum Judentum bekennen.