Glaube, Andacht und Pflicht
Du sollst nicht morden
Dieses Gebot, wirst du vielleicht denken, brauchen wir Söhne und Töchter gebildeter Familien uns nicht weiter einzuprägen; denn bis zu dem Grade der Rohheit wird Niemand unter uns sich erniedrigen, um dies schrecklichste aller Verbrechen zu begehen.
Allerdings ist der Mord das traurigste Verbrechen; denn er raubt dem Menschen dasjenige, was ihm nie wieder kann erseht werden: das Leben, und mit Recht schauderst du schon in Gedanken vor der entsetzlichen Tat. Aber bedenke Folgendes und du wirst dennoch recht ernstlich mit obigem Gebote dich beschäftigen.
Wie oft, verhältnismäßig, hören wir noch immer von einem aus Rache, Zorn oder Habsucht selbst durch sogenannte Gebildete verübten Morde. Nun — sind diese nicht auch einmal rein und unschuldig gewesen? Haben sie nicht auch einmal vom Morde so gedacht wie du? Wie befleckte sich plötzlich ihre Hand durch die grausige Untat?
Nein, nicht plötzlich — das bedenke — geschieht der Mord. Lange, sehr lange musste eine oder die andre Leidenschaft genährt werden, ehe er möglich war. Statt den Zorn zu ersticken, da er noch als unscheinbarer Funke auftrat, ward ihm willig gewährt, bis er zur unlöschbaren Flamme heranwuchs. Statt die Habsucht zu mäßigen, bis sie ganz geschwunden, ward sie fort und fort befriedigt von ihrem Träger, der sich erst in Kleinem dann in immer größerem Maße am Gute des Nächsten vergriff, bis sie kein Hindernis mehr anerkennen wollte und vor dem Furchtbarsten nicht zurückbebte. Statt die Rache im Herzen zu bekämpfen, da sie noch eine geringe und leicht zu bewältigende Krankheit war, ließ man sie zum tödlichen Fieber werden, dem man dann allerdings vergeblich zuruft: halt ein, dass die Pulse wieder ruhig schlagen!
Siehe, so ist der Mord nur die höchste und verderbliche Spitze von Lastern, die dir, bis du die Spitze siehst, nicht so gar gefährlich vorkommen; so steckt in jedem Menschen zum größten Verbrecher der Anfang, dem du schnell beikommen, von dem du gleich ablenken musst, willst du nicht allmählich auch zum traurigen Ende gelangen, das nur der mannigfachen Lockungen und Gelegenheiten wartet, um einzutreten.
Wenn dir also geboten wird: du sollst nicht morden, so fasse dabei den festen Vorsatz, dich aller deiner bösen Neigungen zu entledigen, damit sie nicht zu Leidenschaften werden, die dir über den Kopf wachsen. Denn siehe, »die Sünde lagert vor der Tür und nach dir ist ihr Verlangen, doch du kannst ihrer Herr werden.«
Die Nächstenliebe
»Gut ist nicht, wer das Böse unterlässt, sondern gut ist, wer das Gute tut,« lautet ein Spruch der alten Weisen.
So soll es auch dir nicht genügen, dass du nie ein Menschenleben zu Grunde richtest, sondern ausblicken unter deinen Mitmenschen, um Leben zu fördern und zu erhalten.
Wenn du einen Ertrinkenden ohne eigne Todesgefahr zu retten, einen Verschmachteten zu erquicken, einem unschuldig Verfolgten Schutz und Zuflucht zu bieten vermöchtest und tätest es nicht, würden deine Gewissensbisse ob des Unterganges, dem er verfallen, nicht nahezu an das Bewusstseins des Mordes heranreichen?
Stehe also nicht still bei dem Blute deines Nächsten (3. Buch Mose 19, 16), sprich nicht mit Kain: bin ich denn der Hüter meines Bruders?— denn solche Gesinnung war ja die Begleiterin des schnöden Mordes — sondern erhebe dich zum Bewusstsein der Pflicht, für deinen Nebenmenschen eintreten und handeln zu müssen in allen Gefahren und Drangsalen, die ihn bedrohen.
Rette die dem Tode geweiht und dem Untergange verfallen sind (Sprüche Salomos 24, 11); brich dem Hungrigen dein Brot und die armen Bedrängten führe in dein Haus; kleide die Nackten und entziehe dich nicht dem, der deines Fleisches ist (Jesajas 58, 8).
Tritt aus dir heraus und aus dem engen Gesichtskreis des eignen Nutzens und Wohlbefindens, um auf die Andern hinzublicken, auf die Leidenden und Bedürftigen um dich her; sei ihrer Blindheit Auge, Ohr ihrer Taubheit, Beistand und Fürsorge ihrer Unbehilflichkeit.
Erkenne, dass dein Nächster, wie er dir ähnlich gebildet, wie ihm das Siegel der Gottheit auf die Stirn gedrückt ist gleich dir, auch dieselben Anforderungen an das Leben hat, dass auch er ein Kind Gottes ist, als welches du dich selbst so gern und mit so vollem Rechte empfindest. Hilf ihm daher aus den irdischen Nöten unversehrt hervorzugehen; je schmerzlicher er von denselben heimgesucht wird, je weniger er also dem höheren Dasein sich erschließen kann, desto größer ist dein Verdienst, wenn du ihn wieder aufrichtest und ihn wieder befähigst, nach der Gottähnlichkeit, für die er geschaffen, zu leben und zu wirken.
Mit Einem Wort: liebe den Nächsten wie dich selbst, liebe den Fremden wie dich selbst (3. Buch Mose 19, 18 und 34), das heißt wie das Ebenbild Gottes. Erblicke es auch in dem Unbekannten, der dir ferne steht. — Den Verbrecher aber, der von der Ähnlichkeit mit seinem heiligen Urbild abgewichen, führe zurück zur Ebenbildlichkeit mit demselben, auf dass du sein geistiges Leben rettest.