Lina Morgenstern

Clara Roth — Nachruf auf Lina Morgenstern

Eine der bekanntesten Persönlichkeiten Berlins in der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts, eine der wirksamsten unter den deutschen Sozialpolitikerinnen war die »Suppenlina«: Lina Morgenstern. Eine kleine zarte Erscheinung mit klugen, durch Brillengläser blickenden Augen, einer klangvollen Stimme, die durch die größte Versammlung trug, schlicht, anspruchslos, voller Güte, mit offener Hand für die Armut, selbst oft in Not anderen helfend, literarisch gewandt, von bedeutenden Menschen in der Unterhaltung geschätzt — so steht das Bild dieser Frau vor den Augen derer, die ihr nahe traten.

Lina Morgenstern wurde am 25. November 1830 zu Breslau als zweite Tochter des wohlhabenden Kaufmanns Albert Bauer geboren und erhielt eine vielseitige Erziehung. Unter vier Geschwistern aufgewachsen, hatte sie für andere wirken gelernt und früh die Gabe praktischer Wohltätigkeit entwickelt. An Ihrem 18. Geburtstag begründete sie den »Breslauer Pfennigverein zur Unterstützung armer Schulkinder«.

Durch den finanziellen Zusammenbruch ihres Mannes, des aus Polen stammenden Kaufmanns Theodor Morgenstern, dem sie 1854 als Gattin nach Berlin gefolgt war, sah sie sich vor die Notwendigkeit gestellt, auch materiell für die Familie zu sorgen. Sie nutzte ihr literarisches Talent, schrieb Kindergeschichten und Märchen und übersetzte polnische National-Lieder. Eine weltfremde Literatin ist Lina Morgenstern nie gewesen. Wie die Kindergeschichten aus ihrer eigenen kinderreichen Familie, wie die polnischen Lieder aus der Geistesgemeinschaft mit ihrem Gatten, so erwuchs ihr aus ihren weitergehenden praktischen Interessen die Mehrzahl ihrer späteren Schriften.
Das »Paradies der Kindheit« (1865), das, in viele Sprachen übersetzt, ein großer buchhändlerischer Erfolg wurde, ging unmittelbar aus ihrer durch die Fröbelschülerin Bertha von Marenholtz angeregten praktischen Arbeit in der Kinderpflege hervor. Ebenso entsprang alles, was sie an Frauenkalendern, Frauenzeitschriften, Kochbüchern oder, kulturhistorisch rückblickend, zur Frauenbewegung herausgab, mehr oder weniger ihrer sozialen Praxis.

In dem Maße, als ihre fünf Kinder heranwuchsen, konnte sie sich der Neigung, für weitere und weiteste Kreise zu wirken, immer mehr überlassen. Zuerst war ihre praktische Tätigkeit noch ganz auf die Kinderpflege beschränkt. Von 1861 bis 1866 finden wir sie an der Spitze des Berliner Kindergartenvereins, und etwas später wird die Kinderpflegerinnenschule, in der auch Mädchen aus dem Volke in die Fröbelsche Lehre eingeführt werden sollten, von ihr begründet.
Nach und nach aber erweiterte sich ihr Wirkungskreis, und schließlich gab es wohl keine Frage des bürgerlichen Frauenlebens, zu der Lina Morgenstern nicht organisatorisch Stellung genommen hätte.

Die Berliner Volksküchen sind ihre Schöpfung. Aus einer Notwendigkeit des Krieges (1866) und den besonderen großstädtischen Verhältnissen hervorgegangen, ist die Volksküche zu einer der bedeutsamsten Einrichtungen der frühen Sozialpolitik geworden.
Man übersieht leicht das persönliche Moment, das in solchen anonym gewordenen Erscheinungen ursprünglich wirksam war:
Die Ideen der Lina Morgenstern wurde von ihren Schwestern und Töchtern weiter verbreitet. Durch sie wurde unter anderem der Kindergarten nach England (1873) und die Volksküche nach Stockholm (1885) gebracht.

Wie der sechsundsechziger, so fand auch der siebziger Krieg die rastlose Frau auf ihrem Posten. Von der Königin aufgefordert, organisierte sie Bahnhofsküchen für Truppentransporte und Ambulanzen für die Verwundeten.
Zwischen die beiden Kriege fällt die Gründung des Kinderschutzvereins (1868), welcher der Sterblichkeit, namentlich der außerehelichen Säuglinge, steuern und den »Engelmacherinnen« das Handwerk legen sollte, eine Vorform unserer heutigen städtischen und staatlichen Säuglingsfürsorge.
Während der ökonomischen Krise der siebziger Jahre suchte sie durch Zusammenschluss der Berliner Hausfrauen in einem 1873 auf konsumgenossenschaftlicher Grundlage errichteten Hausfrauenverein die Wirtschaftsführung der einzelnen Haushalte zu verbilligen. Der Verein, der in etwas veränderter Form noch heute besteht, wurde durch

weiter ausgebaut.
Seit 1874 besaß er in der von Lina Morgenstern herausgegebenen »Deutschen Hausfrauenzeitung« ein eigenes Organ, das sich aber bald zu einer allgemeinen Frauenzeitschrift entwickelte.

Mit den 1887 eröffneten Lehrkursen für die häusliche Krankenpflege wurde ihr Fürsorgesystem für Haus und Familie abgeschlossen.
Dass sie jedoch über der sozialpolitischen Arbeit für die bürgerliche Frauenwelt, ihren eigentlichen und fruchtbarsten Wirkungskreis, der Sorge für die gesellschaftlich diskreditierten weiblichen Elemente nicht vergaß, zeigt ihr 1880 ins Leben getretener »Verein zur Rettung minorenner, strafentlassener Mädchen«. [minorenn: minderjährig, unmündig (Duden)]

Lina Morgenstern war eine Frauenrechtlerin alten Stils, für die ethische und politische Bestrebungen einen praktischen Sinn haben mussten. Den ideellen Forderungen der Frauenemanzipation suchte sie nach ihrer Art durch die Gründung einer »Akademie zur wissenschaftlichen Fortbildung für junge Damen« (1869) zu genügen. Ihr Programm, für das sie in zahllosen Versammlungen inner- und außerhalb Berlins stritt, war das des »Allgemeinen deutschen Frauenvereins«, dem sie viele Jahre als Vorstandsmitglied angehörte. 1865 zu Leipzig gegründet, hatte dieser Verein die Frauenrechte auf Bildung, Arbeit und freie Berufswahl proklamiert, dagegen auf Erkämpfung der politischen Rechte als hoffnungslose Utopie verzichtet. Das Frauenstimmrecht trat aber unter den Postulaten [Forderungen] der namentlich mit Minna Cauer aufkommenden jüngeren Frauenbewegung immer mehr hervor.
Zwischen ihrer und der radikaleren jüngeren Generation zu vermitteln, dafür war niemand geeigneter als die weitherzige, fortschrittliche, praktische Lina Morgenstern. Wir finden sie daher neben Minna Cauer als Organisatorin des ersten internationalen Frauenkongresses, der 1896 in Berlin tagte.

In dem Buch »Frauenarbeit in Deutschland« (1893) hat Lina Morgenstern auch die Ergebnisse ihrer eigenen Lebensarbeit niedergelegt.

Allen Anfeindungen zum Trotz, die sie von Rechts und mehr noch von Links bestehen musste, hatte sie sich durchgesetzt.

Viele Auszeichnungen wurden ihr zuteil, und in den Gemächern der Kaiserin Augusta war die freimütige Demokratin ein oft und gern gesehender Gast.
Auch im Ausland, wo sie als Mitglied des Weltfriedenbundes viele Bekannte besaß, hatte ihr Name guten Klang.

In Neuyork [New York] wurde eine Lina-Morgenstern-Loge zur Fortbildung junger Mädchen begründet.

Die treu sorgende Mutter hatte den Schmerz, dass ihr drei Kinder im Tode vorausgingen, darunter ihre Lieblingstochter Olga.
Sie selbst starb neunundsiebzigjährig zu Berlin am 16. Dezember 1909.

Bettelheim: Biographisches Jahrbuch Bd. XIV, Berlin 1912, Totenliste Sp. 63. — Die Schriften der L.M. in Kürschners Literaturkalender 1909, Sp. 1113 ff. Benutzt wurde außerdem ihre unvollendete handschriftliche Selbstbiografie.

Clara Roth

Quelle:
Schlesische Lebensbilder, Erster Band, Schlesier des 19. Jahrhunderts, Breslau 1922, Verlag von Wilh. Gottl. Korn.